Mischa Ehrhardt
Wird Deutschland eine Streikwelle erleben? Leiten die Forderungen der Mitarbeiter von den Chefs die Lohn-Preis-Spirale ein? In der deutschen Wirtschaftswelt, in der der Arbeitskräftemangel wächst, gibt es hitzige Debatten.
Der Riesenwarnstreik am Montag in Deutschland, der stärksten Volkswirtschaft Europas, hat die Diskussionen über mögliche Entwicklungen in der nahen Zukunft angeheizt.
Die steigenden Anforderungen der Mitarbeiter sind auf einem Niveau, das manchem Chef den Atem stocken lassen kann.
Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) fordert eine Erhöhung um 10,5 Prozent für den öffentlichen Dienst und eine Gehaltserhöhung von mindestens 500 Euro monatlich. Die Eisenbahnergewerkschaft EVG hingegen will eine Erhöhung um 12 Prozent und eine Gehaltserhöhung von mindestens 650 Euro.
Die Gewerkschaften argumentieren, dass der Kaufkraftverlust aufgrund der hohen Inflation durch diese Erhöhungen kompensiert werden sollte.
Deutschland erlebte am Montag den größten Streik seit Jahren
Einige Ökonomen warnen davor, dass diese hohen Anforderungen zu einer Lohn-Preis-Spirale führen können, dh Preiserhöhungen können zu einer Erhöhung der Kosten und dementsprechend zu Preiserhöhungen führen.
Was haben hohe Preise mit Inflation zu tun?
Die Vorsitzende der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, warnte vor einigen Tagen, dass die erhöhte Belastung fair zwischen Mitarbeitern und Chefs aufgeteilt werden müsse.
„Wenn die Parteien versuchen, ihre Verluste nur zu ihrem Vorteil zu minimieren, dann können sich höhere Gewinnspannen, Preise und Preise gegenseitig umwerfen“, sagte Lagarde.
Die Gewerkschaften hingegen sind mit ihren Forderungen nicht der Ansicht, dass in eine solche Spirale geraten wird.
Gewerkschaften: „Bullshit“
„Von einer Lohn-Preis-Spirale zu sprechen, ist Unsinn“, sagte Verdi-Chef Frank Wernecke und fügte hinzu, seine Forderungen stünden bereits hinter einer echten Inflation.
Auch Marcel Fratzscher, der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), betonte, er sehe die Gefahr einer Lohn-Preis-Steigerung nicht und sagte: „Das ist ein Mythos.“
Fratzscher wies darauf hin, dass Arbeitnehmer im Jahr 2022 im Wesentlichen einen realen Preisverlust von durchschnittlich drei Prozent zu tragen haben, 2023 dürften zwei Prozent oder mehr Verlust hinzukommen.
Sachverständigenratchefin Monika Schnitzer wies darauf hin, dass die Inflation in diesem Jahr voraussichtlich über 6 Prozent liegen werde, und stellte fest, dass die Erwartungen der Arbeitnehmer berechtigte Forderungen seien.
Ökonom Schnitzer betonte aber, dass es auch wertvoll sei, eine Lohn-Preis-Spirale zu verhindern. Schnitzer erinnerte daran, dass die Bundesregierung Arbeitgebern aus diesem Grund steuerfreie Einmalzahlungen an Arbeitnehmer erlaube, und wies darauf hin, dass auch Maßnahmen ergriffen worden seien, um die hohen Stromkosten zu senken.
Ist also ein Kompromiss möglich?
Monika Schnitzer sagte, dass zwischen Chefs und Mitarbeitern ein akzeptabler Kompromiss gefunden werden könne.
Die Erfahrung der Vergangenheit zeigt auch, dass sich die Forderungen der Gewerkschaften nicht direkt in den Vereinbarungen widerspiegeln und die letzten nach den Verhandlungen vereinbarten Preiserhöhungen meist unter den ursprünglich hohen Forderungen liegen.
Auch Clemens Fuest, ifo-Chef des Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung, glaubt an einen Konsens der Parteien.
Fuest gegenüber der DW: „Ich denke wie immer, dass ein Konsens erreicht wird. Die Chefs werden sicher etwas zurücktreten. Aber auch hier gibt es eine Grenze. Mein Anspruch ist, dass es eine 7-prozentige Preiserhöhung geben wird wieder unter der Inflationsrate liegt, aber private Haushalte und Arbeitnehmer entlastet“, sagte er.
Was sind die Gründe, die die Hände der Mitarbeiter stärken?
DIW-Chef Marcel Fratzscher ist zuversichtlich, dass die Zahl der Streiks in Zukunft zunehmen wird.
Der Wandel auf dem Arbeitsmarkt und der zunehmende Arbeitskräftemangel hätten die Hände der Arbeitnehmer gestärkt, sagte Fratzscher: „Wir erleben eine Wende auf dem Arbeitsmarkt. Die Ära des Chefmarktes, in der Chefs mehr oder weniger diktieren können Preise und Arbeitsbedingungen, scheint ein Ende gefunden zu haben.“
Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass es in Deutschland einen Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel gibt und dieser auch in Zukunft ein Problem sein wird.
Dafür spricht auch die aktuelle Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit. Für das Jahr 2023 rechnet das IAB mit einem Anstieg der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 340.000 Personen, die Zahl der Erwerbstätigen wird mit rund 46 Millionen einen neuen Höchststand erreichen.
Enzo Weber, Leiter des IAB-Bereichs Makroökonomische Analysen und Prognosen, sagte: „Der Arbeitskräftemangel hat ein Ausmaß erreicht, wie wir es seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Deshalb versuchen Chefs, ihre Mitarbeiter auch in einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld zu schützen.“
Weber wies auch darauf hin, dass die günstige Beschäftigungsentwicklung die Einkommen stütze und damit ein wertvoller Stabilitätsanker für die Wirtschaft sei.
Sind hohe Preise das Rezept zur Schließung des Arbeitskräftemangels?
Das für seine Arbeitgebernähe bekannte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ist der Meinung, dass der Preisanstieg allein die Arbeitskräftelücke nicht schließen kann.
In einer im IW-Arbeitsmarktexperten Alexander Bursted veröffentlichten Studie wies er darauf hin, dass Preissteigerungen weder kurzfristig den Fachkräftemangel ausgleichen noch mittelfristig für ausreichende Mobilität der Arbeitsmarktlage sorgen können.
Burstedde argumentierte: „Höhere Preise werden Dienstleistungen und Waren stattdessen kurzfristig wertvoller machen, insbesondere in Branchen, in denen der Arbeitskräftemangel hoch ist.“
T24